XV
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Als sie den Schrank abrückte, stürzte der Putz von der Wand, ein großer Placken, dessen Risse sich geschwind erbreiterten; es klatschte schwer an den Schrankseiten vorbei, verteilte sich schnell über den Boden, ein kalkiges dreckiges Geröll, und sie hörte, daß es sich hinter der Rückwand des Schrankes staute, während das nackte Mauerwerk sichtbar wurde. Als sie den Schrank mit einem Ruck zur Seite bewegte, löste sich die Stau- ung, und es rollte zwischen den vier Beinen heraus; Dreck, stau- biger kalkiger Dreck, eine Wolke stob auf, die sich über alle Gegenstände des Zimmers lagerte: ein feiner ekelhafter Puder, und sie hörte es unter ihren Füßen knirschen; wo sie auftrat, war ein trockener Kalkbrei, der sich in den groben Rillen des Bodens festsetzte…
Sie fühlte, daß ihr die Tränen kamen, ein unbekanntes schmerzhaftes Gewölle der Verzweiflung ihre Kehle füllte, ein Wulst von Schmerz, der heraus wollte, aber sie würgte ihn hin- unter und ging mit zuckendem Gesicht wieder an die Arbeit. Sie öffnete das Fenster, fegte den Putz, eine weiße Wolke vor sich hertreibend, und fing an, alles zum zweiten Male mit dem Staub- lappen abzureiben. Insgeheim verfluchte sie diesen plötzlichen Trieb, der sie veranlaßt hatte, sauber zu machen. Woher kam er nur? Sie wußte es nicht. Dieser Trieb nach Ordnung und Sau- berkeit war ganz neu, und sie wußte, daß es sinnlos war. Vorher schien alles sauberer gewesen zu sein: wo sie den Boden naß gewischt hatte, wurden nun Flecken und häßliche Kreise sicht- bar: uralter eingetretener Kalk, den man vorher nicht bemerkt hatte: alle ihre Mühen brachten nur eine unheimliche Transpa- renz widerlicher Flecken zum Vorschein, die unausrottbar er- schien. Auch die Möbel sahen nun, nachdem sie sie zum zweiten Male abgerieben hatte, schäbiger aus als vor der ersten Reini- gung; ausgehauene Stellen und Splitterlöcher waren nun erst
richtig sichtbar geworden: häßlicher Krempel stand da, der kaum
noch einer Säuberung wert schien: das schadhafte Bett, der
Tisch, dessen Platte locker war und den man nur vorsichtig be- wegen konnte, damit die Füße nicht aus dem Leim fielen, und diese beiden Schränke: hohe braune Kästen, fleckig von Kalk, verzogen vom Regen, und oben besät mit kleinen Kalkstück- chen, die ständig aus der schadhaften Decke nachfielen…
Eine Unendlichkeit von Schmutz tat sich auf, die ihr jetzt schon Verzweiflung verursachte, und gegen den anzukämpfen sinnlos war. Die Tapete war zerfetzt, der Putz überall rissig, und an manchen Stellen wurden die Placken nur noch durch den Kleister gehalten, der die Tapete an den Putz heften sollte, aber der Kleister hielt nun den Putz.
Als sie den zweiten Schrank vorsichtig zur Seite schob, hörte sie nur ein leises Bröckeln, Putzteile, die sich hinten gesammelt hatten, kullerten zu Boden, ein paar Hände voll Dreck…
Eimer um Eimer schleppte sie in die Bude, aber sie brauchte nur zwei Quadratmeter aufzuwischen, und schon war das klare Wasser milchig und dickflüssig von gelöstem kalk, Gips und Sand, und jedesmal, wenn sie den Eimer unten in die Trümmer kippte, blieb ein zähes Sediment, das sie mühsam ausspülen mußte. Jedesmal, wenn sie mit neuem Wasser ins Zimmer trat, blieb sie erschrocken stehen: die Stellen, die sie aufgewischt hatte, waren inzwischen getrocknet und leuchteten weiß, spröde und häßlich, während der Boden, den sie noch zu säubern hatte, eine dunkle und regelmäßige Farbe hatte.
Auch aus den Fußleisten heraus rieselte es ständig nach, ein besonders feines Geröll, von dem nur wenig genügte, um einen ganzen Eimer Wasser weißlich zu färben und für die weitere
Reinigung zu verderben…
Etwas wie Trotz veranlaßte sie, den Kampf fortzuführen, wei- ter Eimer um Eimer zu schleppen, obwohl sie insgeheim wußte, daß es sinnlos war: die Flecken kamen immer wieder hervor, und immer wieder kamen neue Brocken: welch eine Menge Kalk und Gips, Zement und Sand verarbeitet war, erkannte sie erst, als sie einen neuen Sturz auffing und einen ganzen Eimer trok- kenen Dreck herunterschleppte, der hinter dem Bett herausge-
kullert war und an der Wand nur eine kleine nackte Stelle verur-
sachte. Sie fühlte nach und stellte fest, daß der Putz lose neben der Wand stand: ein kühler dunkler Spalt war zwischen Putz und Mauerwerk, in den sie ihre Hand hineinstecken konnte, und als sie vorsichtig dagegen klopfte, klang es hohl und geheimnisvoll. Die Decke war uneben, stellenweise hatte sie sich gesenkt unter dem Gewicht der Putzmassen, hatte Risse und Spalten gebildet, eine ganze Geographie feiner Verästelungen, die eines Tages platzen und herunterfallen würden, neue Staubmengen, neue Kalkmassen, die durch Wasser auf dem Boden zum Leben er- weckt würden, eine weiße unausrottbare Fleckigkeit, die wie zäher Ausschlag immer wieder hervorkommen würde…
Später lag sie auf dem Bett und rauchte, das Gesicht zur Wand gedreht, um die Sinnlosigkeit ihrer stundenlangen Qual nicht zu sehen, dieser Qual, die sich fortpflanzen, die ewig dauern würde. Der Wecker auf der Kommode zeigte fünf Uhr: sieben Stunden hatte sie gearbeitet, unzählige Eimer Wasser geschleppt, aus diesem Trieb heraus, den sie als neu und schrecklich empfand; und der Boden zeigte alle Schattierungen vom leuchtenden Weiß bis zum dunkelsten Grau in einer teuflischen Unregelmäßigkeit: ein fleckiges Denkmal ihrer Mühe.
Die Kleider klebten ihr am Leibe, schienen auf sie gepappt wie dünner Gummi, der ihr keinen Raum zum Atmen ließ, und sie roch sich selbst: diesen säuerlichen Schweißgeruch und den Dunst von schmutzigem Putzwasser, und das brennende Verlan- gen nach guter Seife und sauberen Kleidern trieb ihr die Tränen in die Augen. Sie knipste die Zigarette aus und aß langsam etwas Brot, indem sie Brocken um Brocken von der großen Scheibe abpflückte und in den Mund schob…
Draußen regnete es, Dunkelheit schlug ins Zimmer und milder- te die aufreizenden Spuren ihrer sinnlosen Säuberung, und als sie das Brot gegessen hatte, zündete sie die Zigarette wieder an und lag auf dem Bett, im Rauschen des Regens rauchend und träumend. Sie konnte es nicht verhindern, daß die Tränen ihr übers Gesicht liefen, stoßweise lösten sie sich aus ihr, unaufhalt- sam, heiß, sich schnell abkühlend…
Sie erschrak, als sie aufwachte, richtete sich auf und sah, daß
es sechs war. Es schien ihr, als seien die Wasserzeichen auf dem Boden dunkler geworden, und wenn es auch nicht sauber aussah, schien doch eine gewisse Glätte und Regelmäßigkeit zu herr- schen. Sie sehnte sich so nach Sauberkeit; dieses Verlangen hatte sie getrieben, anzufangen, aber es schien sinnlos zu sein, es quoll nach, quoll unaufhörlich nach, der Dreck schien der Säube- rung nicht zu weichen, sondern diese als eine Herausforderung zu empfinden und sich zu verdoppeln, zu verdreifachen: als die Sonne draußen plötzlich durchbrach, erschrak sie: die Schränke waren wolkig, sahen wie beschmiert aus, und der Boden zeigte seine teuflische Musterung in voller Pracht…
Sie stand müde auf, setzte Wasser auf den Herd, legte Holz auf und musterte, während das Wasser warm wurde, ihre Schätze: eine halbe Flasche Wein, ein halbes Brot, etwas Marmelade, ein Klumpen Margarine, eine ganze Tasse voll Kaffeepulver, die sie sorgsam mit Pergamentpapier zugebunden hatte, Tabak und Zigarettenpapier und Geld, Geld, in der Schublade, ein kleiner Haufen schmutziger Scheine: fast zwölfhundert Mark und die fünfzig, die Hans ihr gegeben hatte; ihr Reichtum erschien ihr groß und tröstlich…
Sie hielt die Seife lange unter die Nase, rieb sie trocken über Gesicht und Wangen, um den Geruch nahe zu spüren, den Ge- ruch dieser dünnen zerschlissenen Scheibe, die mit etwas Man- delaroma durchsetzt war…
Sie hörte, daß er draußen etwas Schweres auf den Boden setz- te, einen Sack offenbar, der etwas Hartes und Schweres zu enthalten schien, und als er eintrat, sah sie, daß es draußen
wieder regnete, er war naß im Gesicht, und schwarzer
Kohlendreck hatte sich mit Regen gemischt, schwärzliche Striemen liefen über sein blasses und müdes Gesicht; es schien, als weine er schwarze Tränen. Sie sah es durch den spärlichen Seifenschaum hindurch, der in ihren Brauen und Wimpern hing und sie blinzeln machte, und sie schämte sich ihrer nackten Brust und hielt mit nassen Händen das Hemd hoch, das heruntergerutscht war. Er küßte sie lächelnd auf den Nacken,
einen Augenblick nebeneinander im Spiegel, seinen dunklen
Kopf auf ihrer Schulter neben ihrem hellen Gesicht…
Sie aßen im Bett. Neben der Kaffeekanne auf dem Stuhl stand der kleine Stapel rötlich beschmierter Brote. Die Luft war süß und mild, draußen regnete es, und das Geräusch des stetigen Regens war wie eine Verzauberung. An der Decke wurden die dunklen Kreise wieder sichtbar, wie immer, wenn es regnete, lautlos sich vollsaugende, sich erweiternde Kreise, die wachsen würden, bis die Pfütze, die im zerstörten Stockwerk darüber stand, leergesogen war; die stille und flinke Art, wie das Wasser sichtbar wurde, wie auf einem Löschblatt, hatte etwas Beunruhi- gendes; diese Kreise waren wie Augen, die ihnen zuzusehen schienen, in der Mitte, im Kern dunkel, fast schwarz, mit dem hängenden Tropfen, der nachfiel – zum Rande hin sich abstu- fend in immer hellerem Grau; sie erschienen wie Signale, Warn- zeichen, die aufleuchteten, für einige Tage stehenblieben und wieder verschwanden, nur dunkle Ränder zurücklassend; manchmal löste sich dann später ein Placken, klatschte der Kalk aufspritzend auf den Boden, und oben blieb das Lattengeflecht, eine finstere Lücke, die sich langsam mit Spinngeweben füllte, und an diesen Stellen, wo der Putz schon heruntergefallen war, tropfte es durch. Sie hatten das Bett verrückt, und nun stand es mitten im Zimmer und dieser Zustand erhöhte den Eindruck der schwimmenden Unsicherheit…
Sie lagen nebeneinander, ohne sich zu berühren. Schon die Tatsache, sauber zu sein, erfüllte sie mit Glück; nur manchmal, wenn er ihr Brot herüberreichte, berührte er ihr Gesicht oder
ihren Arm, und sie lächelte ihm zu.
»Übrigens«, sagte er, »hat dein Entlassungsschein die schwer- ste Probe bestanden.«
»Ja?«
»Ich habe einen Registrierschein darauf bekommen, obwohl« – er lachte – »obwohl ich offenbar der erste bin, der entlassen wird. Sie haben die ersten erst Mitte Juni erwartet. Ich glaube, wir ändern das Datum am besten jetzt und warten bis Mitte Juni,
aber die Marken habe ich bekommen.«
»Schön«, sagte sie, »bis wann?«
»Bis Ende Juni schon – wer weiß, was bis dahin ist…«
»Ja«, sagte sie, »das ist fast ein ganzer Monat – bis dahin – und die Briketts?«
Er lachte wieder. »Es ist ganz einfach. Man braucht nur auf die Züge zu springen und sie herunterzuschmeißen, manchmal hal- ten die Züge auch, und sie sind kaum bewacht. Ich habe mir
alles genau angesehen, den ganzen Nachmittag lang. Jemand hat
mir sogar genau die Zeiten gesagt, wann die Züge kommen« – Er griff in die Tasche des Mantels, der über der Stuhllehne hing und nahm einen Zettel heraus – »Morgens um fünf, dann gegen elf und nachmittags kurz nach vier und um sechs, sie fahren ganz regelmäßig. Man müßte einen Wagen haben. Um fünf kann man noch nicht gehen, weil Sperrstunde ist. Willst du Kaffee?«
»Ja«, sagte sie.
Sie nahm die Tasse von dem Stuhl, der an ihrer Seite neben dem Bett stand, und hielt sie ihm hin. Er goß ein.
»Ja«, sagte er, »wer weiß, was bis Ende Juni ist, bis Mitte Juni. Wir haben Geld und Marken, Brot und Tabak, und ich werde
jeden Tag hundert Briketts holen, das genügt. Ich habe gehört,
daß man für fünfzig Briketts ein Brot bekommt und für zehn eine Zigarette.«
»Ja«, sagte sie, »das wird stimmen. Brot kostet dreißig, und die Zigarette sechs, und im Sommer sind die Kohlen billig…«
»Sie steigen im Preis, wenn das Thermometer fällt – aber dann
wird auch das Brot steigen – im Winter ist der Hunger schlim- mer.«
»Wir wollen noch nicht an den Winter denken.«
»Nein«, sagte er, »um Gottes willen, wir wollen noch nicht an den Winter denken.«
»Ich bin sehr glücklich«, sagte sie langsam.
»Ich auch«, sagte er, »ich weiß nicht, ob ich jemals so glück- lich war.«
Sie schwiegen eine Weile und das Rauschen des Regens war unvermindert, in der feuchten Dämmerung draußen standen die
triefenden Bäume, und es gab jedesmal ein klatschendes Ge-
räusch, wenn sich von der Decke ein Tropfen löste…
»Willst du rauchen?« fragte er, aber sie antwortete nicht, und als er sich umwandte, sah er, daß sie eingeschlafen war; sie lä- chelte im Schlaf, und er rückte näher, bis ihr warmes Gesicht an
seiner Brust lag.
Ich hebe sie, dachte er, ich kenne sie, und vieles ihr werde ich noch kennen lernen, aber soviel es auch je sein mag, es wird immer wenig sein fast nichts.